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Den Bauhütten und Zünften des Mittelalters war bekannt, dass eine Bewegung ihre Kraft nur erhält, wenn sie von einer geistigen Energie durchdrungen ist. Nur diese Ener- gie vermag es, die dauernd auf Ansiedlung und Gewohn- heit hinstrebenden Mächte immer zu durchstoßen und die Wandlung zu bewirken. Es ist das Kennzeichen jeder echten Schulungsgemeinschaft, dass sie alle ihre Werke im Dienst eines über ihr stehenden Gedankens leistet. So hatte jedes der mittelalterlichen Handwerke seine Leitgestalt – die Zunft der Weber stand im Dienste des Severus, die Zunft der Schuhmacher im Dienst des Crispinus, die Zunft der Schmie- de im Dienst des Eligius, die Zunft der Maler im Dienst des Lukas, die Zunft der Schreiner im Dienst des Joseph. Die in der Bauhütte vereinigten Steinmetze strebten den „Vier Gekrönten“ nach: Sempronius, Klaudius, Nikostratus und Kastor. Die Konzentration auf die geistige Mitte schuf das Wesen der Innigkeit, das durch die Kunstwerke des frü- hen Mittelalters leuchtet. Ein Symbol für diese Ausrichtung der Zünfte und Bauhütten auf geistige Elemente ist die Tat- sache, dass die Pflichtabgabe an das Gemeinwesen stets aus Kerzen bestand. Die Zünfte lieferten das Licht für den Gottesdienst.
Auch die Beiträge innerhalb der Zunft wurden vielfach in Kerzenwachs bezahlt. Noch im 18. Jahrhundert, zur Zeit des spätesten Niedergangs, liest man in den inzwischen ein- geführten zünftigen Strafordnungen, dass für ein bestimmtes Vergehen „eine Buße von drei Pfund Wachs“ gefordert wird. Der Stufenweg der handwerklichen Schule sei nur in Kürze angedeutet. Es liegt – das ist vorweg zu betonen – nicht im Sinn eines Stufenwegs, dass mit der Überwindung einer Stufe, diese Stufe „erledigt“ ist. Wer eine zweite Stufe errun- gen hat, für den bleibt dennoch die Schülerschaft der ersten bestehen, denn die erste trägt ja die zweite. Die dritte Stufe gründet auf den ersten beiden – und so fort. Für die uralte Dreistufung Lehrling – Geselle – Meister gilt dies ganz aus- gesprochen, davon zeugt schon das bekannte Sprichwort:
Meister ist – wer was ersann, Geselle – wer was kann, Lehrling – jedermann.
Quelle: Archiv Festschrift 1993
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